Hochschule Reutlingen

Hearing, Sound and Vibrations

Die Arbeitsgruppe Hearing, Sound and Vibrations beschäftigt sich mit Forschungsthemen aus dem Bereich der Dynamik des physiologischen und pathologischen Hörens. Aktuelle Forschungsthemen lassen sich in die beiden anwendungsorientierten Bereiche Diagnostik und Implantologie unterteilen.

Die Verarbeitung eines akustischen Ereignisses vom freien Schallfeld bis zur Wahrnehmung erfordert das Zusammenwirken von vielen komplexen Mechanismen. Diese hohe Komplexität kommt in der starken Diversifikation der Hörforschung in verschiedene, spezialisierte Fachgebiete zum Ausdruck. Neben der Neurootologie und der Audiologie ist die Biomechanik des Mittelohrs eines davon. Ziel dieses Forschungsgebietes ist es, die Funktionen der einzelnen Mittelohrstrukturen zu entschlüsseln, und daraus diagnostische und therapeutische Maßnahmen für den Fall einer gestörten Hörfunktion abzuleiten.

Dazu wird die Dynamik der Schallleitungskette durch dreidimensionale mechanische Modelle abgebildet. Zur Modellbildung kommen Mehrkörpersysteme, Elastische Mehrkörpersysteme und Finite Elemente Systeme zum Einsatz. Die Simulation des Bewegungs- und Übertragungsverhaltens ermöglicht eine optimierte Abstimmung von Hörhilfen, eine verbesserte Interpretation in der Diagnostik und eine Weiterentwicklung von Diagnoseverfahren in der Otologie.

Hören und Sprechen sind die wichtigsten Kommunikationsmittel des Menschen. Der Hörverlust des Erwachsenen oder die angeborene Taubheit des Säuglings bedeuten ei ne kommunikative Katastrophe für den Einzelnen. Betroffene geraten in eine für den Gesunden kaum nachvollziehbare Isolation.

Das Ohr stellt auf kleinstem Raum ein anatomisch und physiologisch einzigartiges Gebilde unseres Körpers dar. Eine wichtige Komponente dieses faszinierenden Sinnesorgans ist das Mittelohr. Es beherbergt nicht nur die kleinsten Einzelknochen und die feinsten Muskeln, sondern beeindruckt vor allem durch seinen großen Dynamikbereich, in dem es minimale Druckschwankungen in Strukturschwingungen umwandelt. Während im Bereich der Hörschwelle der eben hörbare Schalldruck etwa 20 µPa beträgt und die entsprechenden Strukturschwingungen nur knapp oberhalb der Brownschen Molekularbewegung liegen, können die Drücke und Amplituden bis zur Schmerzgrenze noch etwa zweimillionenfach gesteigert werden.

Derartige physiologische Schalldrücke sind jedoch immer noch verschwindend klein gegenüber den ebenfalls auf das Ohr einwirkenden statischen Luftdruckschwankungen, wie sie beispielsweise beim Treppensteigen, Zug- bzw. Autofahren, Fliegen oder beim Nase- putzen vorkommen. Zwar führen diese zu einer veränderten Wahrnehmung, jedoch nicht zu einer Schädigung des Ohrs. Diese Fähigkeit, trotz großer statischer Druckschwankungen in der Umgebung, gleichzeitig winzige physiologische Schalldrücke wahrnehmen zu können, ist hauptsächlich in den nichtlinearen Eigenschaften der Gelenke und Bänder des Mittelohrs begründet.

Die Abbildung dieser Eigenschaften in mathematische Modelle stellt ein Werkzeug dar, mit dem anhand von numerischen Experimenten der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung und die Sensitivitäten auf veränderte Randbedingungen untersucht werden können. Zusammen mit klinischen Beobachtungen erleichtert dies die Bildung des physikalischen Verständnisses entscheidend, vermittelt einen tieferen Einblick in die räumlichen Bewegungsformen und eröffnet eine direkte Zuordnung der Phänomene zu den mechanischen Eigenschaften der natürlichen Strukturen.

Simulationen erlauben es beispielsweise, die Auswirkung einzelner spezifischer Änderungen am Ohrmodell auf das Übertragungsverhalten des Mittelohrs zu beobachten und ermöglichen so eine gezielte und von Nebeneinflüssen entbundene Untersuchung von Ursache-Wirkungszusammenhängen bei Veränderungen durch Pathologien, chirurgischen Eingriffen, passiven oder aktiven Implantaten.

Aktuelle Forschungsthemen

Die Hördiagnostik ist heutzutage aufgrund der großen interindividuellen Varianzen und der schlechten optischen Zugänglichkeit des Ohrs in der Spezifität auf ein bestimmtes Krankheitsbild und in der quantitativen Beurteilung stark eingeschränkt. Häufig ist nur eine Ja-oder-Nein-Entscheidung möglich, die teilweise stark von der subjektiven Einschätzung des HNO-Arztes abhängt.

Durch Auswertung objektiv gewinnbarer, nicht-invasiver audiometrischer Messungen mit Hilfe eines numerischen Mittelohrmodells sollen die versteckten Mittelohreigenschaften sichtbar und quantifizierbar gemacht werden. Mithilfe des Modells können gezielt Ursache-Wirkungszusammenhänge von pathologischen Änderungen auf das das Übertragungsverhalten des Mittelohrs unabhängig von Nebeneinflüssen untersucht werden. Zusammen mit klinischen Beobachtungen verbessert dies das physikalische Verständnis und ermöglicht eine direkte Zuordnung von Phänomenen zu den mechanischen Eigenschaften der natürlichen Strukturen. Weiterhin kann das Modell Expertenwissen über physikalische Zusammenhänge mit klinischem Expertenwissen quantitativ und multimodal verknüpfen. Dadurch kann der Informationsgehalt von derzeit nur beschränkt auswertbaren große Datenmengen aus verschiedenen objektiven Diagnoseverfahren wie der Breitbandtympanometrie wesentlich besser ausgewertet und verknüpft werden.

Im Fokus unserer aktuellen Forschung stehen eine valide Abbildung von Diagnosemessungen wie der Breitbandtympanometrie mit dem Modell. Bei der Modellvalidierung werden neben publizierten klinischen Studien auch Felsenbeinmessungen herangezogen. Felsenbeinmessungen ermöglichen es bei Patienten schwer und nur durch Langzeitstudien erfassbare strukturelle Veränderungen im Ohr systematisch und kontrolliert zu untersuchen. Zudem stehen wichtige weitere Messgrößen zur Verfügung, die bei Patienten nicht messbar sind.

Um die Simulationsergebnisse an individuelle Messdaten anzupassen und die den anatomischen Eigenschaften korrespondierenden Modellparameter zu identifizieren werden verschiedene Identifikationsverfahren wie Mustersuchalgorithmen und Partikelschwarm-Algorithmen angewandt. Aufgrund der großen Anzahl an Modellparametern werden den Identifikationsverfahren Sensitivitätsanalysen vorangestellt.

Projektfinanzierung

Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg kofinanziert von der Europäischen Union sowie die Volkswagen- und Vector-Stiftung.

 

Bei einer Schwerhörigkeit, die durch eine Pathologie des Mittelohrs hervorgerufen wird, kann oft eine chirurgische Rekonstruktion wieder Hören ermöglichen. Neben passiven Mittelohrimplantaten, z.B. Steigbügelprothesen, gewinnen in den letzten Jahren aktive Implantate, die im Gegensatz zu passiven Implantaten eine zusätzliche Energieversorgung benötigen, zunehmend an Bedeutung. Aktive Mittelohrimplantate können wieder ein Hören ermöglichen, wenn eine passive Rekonstruktion der Knöchelchenkette nicht ausreicht oder nicht möglich ist.

Zusammen mit Partnern aus der Klinik und der Industrie ist die hiesige Arbeitsgruppe in der Entwicklung von passiven und aktiven Implantaten tätig. Ziel der Forschungsaktivitäten ist eine aus mechanischer Sicht optimale Gestaltung im Hinblick auf die Erregung des Gehörs.

Entscheidend für die Funktion eines Implantats ist die Ankopplung an die jeweilige natürliche Struktur. In der Koppelstelle müssen sehr kleine physiologische Druckvariationen verzerrungsfrei übertragen werden können. Daneben soll der Kontakt auch bei vergleichsweise großen quasistatischen Druckschwankungen erhalten bleiben. Forschungsfragen stehen häufig in Zusammenhang mit der mechanischen Ankopplung am Trommelfell, der Ossikel und dem inneren mechanischen Aufbau der Implanate sowie der Reduktion des abgestrahlten Schalls in den Ohrkanal. Durch den Aufbau von Finite Elemente Modellen, Validierungsmessungen und Optimierungen im virtuellen Modellraum können höhere Verstärkungsleistungen, optimierte Energiebedarfe sowie eine verbesserte Klangtreue z.B. durch Verzicht auf aktive Rückkopplungsalgorithmen erreicht werden.

Zur experimentellen Untersuchung von passiven Mittelohrprothesen steht ein Labor mit unterschiedlichen Messständen zur Verfügung. In statischen Kraft-Verschiebungs-Messungen können beispielsweise die Klemmkraft oder die räumlichen Applikationskräfte erfasst werden. Dynamische Messungen mittels Laser-Vibrometrie erlauben die Analyse der Kopplungseigenschaften und deren Einfluss auf das Übertragungsverhalten.

In Europa wird noch in diesem Jahrhundert erwartet, dass ungefähr 30% aller Bürger eine Hörgeräteversorgung bedürfen. Unter den bisherigen Hörgeräteträgern herrscht jedoch eine große Unzufriedenheit über die konventionellen Hörgeräte mit akustischer Anregung. Aus Umfragen sind Gründe wie das "Pfeiffen im Ohr", der Okklusionseffekt ("Meine Stimme klingt komisch"), eine mangelhafte Klangqualität durch Verzerrungen, der Stigmatisierungseffekt und mehr bekannt.

Eines der aktuellen Forschungsprojekte beschäftigt sich mit der Hörkontaktlinse von Vibrosonic GmbH. Diese hat das Potential einen Quantensprung in der Hörgeräteversorgung zu erreichen. Nicht umsonst erhielt Vibrosonic 2018 den Mannheimer Existenzgründungspreis „Mexi“ für besonders erfolgversprechende StartUps. Die HKL wird mit Mitteln der Mikrosystemtechnik (engl. MEMS) gefertigt und ist so klein, dass sie direkt auf dem Trommelfell platziert und getragen werden kann. Sie ist von außen praktisch unsichtbar. Bei der Hörkontaktlinse wird der Lautsprecher konventioneller Hörgeräte durch einen neuartigen Piezo-Aktor ersetzt, der Frequenzen bis zu 16.000 Hertz übertragen kann. Gewöhnliche Hörgeräte erreichen üblicherweise Frequenzen von 6.000 bis 8.000 Hertz. So ist die Hörkontaktlinse in der Lage, hohe Töne zu verstärken, die wichtig für das Richtungshören und das Sprachverstehen im Allgemeinen, insbesondere aber im Störgeräusch oder komplexeren Hörsituationen sind.

Projektfinazierung

Volkswagen Stiftung
03/2018 - 10/2019

 

Ansprechperson

Team

 

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